🇩🇪 Die Famous Gold Watch Audiovisual Studios in Berlin-Weißensee sind ein solcher Herzensort für jede*n, der oder die Indie und Alternative Musik mag, dass man eigentlich nicht darüber schreiben sollte. Denn immer, wenn zu viele Menschen von etwas Großartigem wissen, zerstören sie es. Andererseits ist die Geschichte des märchenhaften Musikkellers zu schön, um nicht erzählt zu werden.
von Maja Roedenbeck
Ich habe mich in den rotbraunen Chesterfield Sessel hinter Robert „Bob“ Spencer gekuschelt, der wiederum in seinem ledernen Drehstuhl vor einer mächtigen Technikinstallation aus Mischpulten, Megamonitor und Boxen thront. Gebannt schaue ich ihm über die Schulter. Denn gleich wird er den Song, der sich beim Radfahren in meinem Kopf modelliert und bisher auch nur dort seinen vollen Zauber entfaltet hat, zum ersten Mal über die Lautsprecher abspielen. Bob, Tontechniker aus Australien, ist der beste Mensch der Welt, den man sich in diesem verletzlichen Moment an seiner Seite wünschen kann. In dem Moment, in dem man das, was man hofft, Kunst nennen zu dürfen, in die Realität entlässt.
Keine herablassenden Kommentare
Er nimmt jeden aufstrebenden Musiker mit seinem oder ihrem Projekt ernst – vom deutschen Liedermacher über den italienischen Masterclass-Absolventen an der Akustikgitarre bis zur Modern Punk-Röhre mit hauptsächlich Straßenmusikerfahrung. Er stimmt Instrumente nach und fragt nach dem Holz, aus dem sie gebaut sind, aber vor allem machen ihn seine tiefentspannten Produktionskommentare aus dem Kopfhörer zum Therapeuten und Motivationscoach in Personalunion.
Wenn es beim dritten Anlauf gelingt, die Bridge fehlerfrei zu zupfen, gibt es ein herzliches Lob, und wenn Bob einen Schnitt setzen muss, beschwichtigt er das frustrierte Musikerinnen-Ego mit dem Hinweis, dass selbst die berühmtesten Künstler ihre Aufnahmen zusammenschneiden. Was es in den Famous Gold Watch Studios nicht gibt, sind große Glasscheiben zwischen Aufnahme- und Produktionsraum, durch die man sich angestarrt und unter Druck gesetzt fühlt, und herablassende Kommentare von Profis. Einfach ist es trotzdem nicht, mit ihnen ein Lied einzuspielen. Die Anweisungen kommen Schlag auf Schlag: beim Percussive Strumming weniger fest auf die Saiten schlagen, an dieser oder jener Stelle mitten im Song ein paar Takte wiederholen. Vier Viertel Vorlauf, und los geht’s.
Tempo, Tempo, Tempo
Wenn man den Tontechniker fragt, ob es ihm nicht irgendwann langweilig wird, Tag ein, Tag aus Singer-Songwriterinnen mit ihren folkig-introvertierten Stücken von tanzenden Bäumen zu betreuen, die hier die Mehrheit der Interpret*innen ausmachen (ich bin da keine Ausnahme), dann antwortet Bob diplomatisch, dass die Musikrichtung für ihn weniger eine Rolle spiele. Nur wenn die Künstler es nicht schaffen, das Tempo zum Klick des Metronoms zu halten, mache ihn das unglücklich. Denn das gibt später Probleme beim Schnitt.
Obwohl – Bob kriegt auch das hin. Er kann Melodieausschnitte so verschieben, dass sie genau auf dem Beat landen. Und er kann eine Phrase, bei der die Emotionen stimmen, aber der Ton nicht ganz getroffen wurde, korrigieren. Er kann Background Vocals so arrangieren, dass sie klingen als habe ein ganzer Chor um die Sängerin herumgestanden, obwohl sie sie selbst eingesungen hat. Es gibt nichts Faszinierenderes als hinter ihm zu sitzen und zuzuhören, wie er Schicht um Schicht Musik aus dem Rohmaterial herausfeilt.
Kreativräume an unerwarteten Orten
Man ist dafür nur ganz schön lange unterwegs. Mit der Tram bis raus ins tiefste Weißensee und dann noch einen Kilometer zu Fuß. Uber-Fahrer*innen haben keine Lust, Aufträge hier draußen anzunehmen. Ihr Navi findet das Ziel sowieso nicht – eine unbeschilderte Kellertür im Hinterhof eines halb leerstehenden Fabrikkomplexes. Aber genau das macht einen Teil der geheimnisvollen Atmosphäre dieses Ortes aus – dass er nur für Eingeweihte existiert.
Ende der 1990er Jahre gab es solche Kreativräume noch mitten in der Stadt. Allen voran das Kunsthaus Tacheles an der Oranienburger Straße. Mittwochs um Mitternacht begannen die Dichterlesungen auf dem balkonartigen obersten Absatz im Treppenhaus und gingen nahtlos in jazzige Jam-Sessions mit Trompete und improvisierten Trommeln über. Ein Aufnahmetag in den Famous Gold Watch Studios ist darum immer auch eine Reise in eine Vergangenheit, in der Berlin noch roher war und es hinter vielen unscheinbaren Kellertüren Subkultur zu entdecken gab.
Das Märchen vom Hausboot und Vaters Uhr
Die Gründungslegende geht kurzgefasst so: Der frühere Universal-Künstler Cameron James Laing kam nach Berlin, weil in London das Boot, auf dem er wohnte, den Geist aufgab. Im Keller einer ehemaligen Rüstungsfabrik in Berlin-Weißensee richtete er sich einen mietgünstigen Kreativraum zum Leben und Songschreiben ein. Nach und nach schauten immer mehr Musikerfreund*innen für Demoaufnahmen vorbei, weil sie dort ihre Ruhe vor genervten Nachbarn hatten. Irgendwann fing er an, die Ratten zu vertreiben, die Wände zu verputzen, die Räume mit Theatervorhängen und Antikmöbeln vom Flohmarkt einzurichten. Mit altertümlichen Teppichen und Schirmlampen, Bar-Interieur, Instrumenten und immer besserer Technik.
Um 2017 wurde übergangslos ein Unternehmen daraus. Das Projekt ist bis heute nicht abgeschlossen – da unten gibt es noch viele leere Zimmer „in denen man sich wie in einem Horrorfilm fühlt“, so Laing auf der Musikerplattform Backstage PRO, und die wie zuletzt das „Rabbit Hole“ für den Studiobetrieb erschlossen werden. Der Name „Famous Gold Watch Studios“ sei eine Erinnerung an seinen Vater, dessen goldene Uhr er nach seinem Tod erbte. Sie wurde gestohlen, obwohl sie nicht einmal funktionierte, und wieder aufgetrieben, so Laing, und inspirierte ihn in Verbindung mit dem märchenhaften Ambiente seines Musikkellers zu dem Firmennamen.
Im Bademantel mit der Studiokatze auf dem Schoß
Der ingeniöse Studiogründer flößt mir, im Gegensatz zum gutmütigen Bären Bob, schrecklichen Respekt ein. Selbst als er nur mit Bademantel bekleidet und Studiokatze Alfie auf dem Schoß mit uns auf den für mein Lied gebuchten Saxofonisten wartet. Den Ruf des Exzentrikers scheint er ein wenig zu kultivieren, jedenfalls berichtet auch eine Reporterin vom britischen Onlinemagazin „For Folk’s Sake“, dass sie sich fragte, „if this is how I die“, als er sie mit Flip-Flops und lackbekleckerten Jeans bekleidet die Treppen hinab in sein Paralleluniversum führte. Gleichzeitig nennt sie ihn aber auch liebevoll und absolut korrekt eine „Vaterfigur für die Berliner Untergrundszene“.
Obwohl ich mich selbst für einen Freigeist halte, fühlt sich in Laings Anwesenheit jeder Satz, den ich sage, entsetzlich spießig an. Aus Nervosität, dass er genervt sein könnte, weil ich meine Studiomusiker nicht zur Pünktlichkeit angehalten habe, mache ich eine flapsige Bemerkung über Genie und Wahnsinn. Damit habe ich mich sogleich als Rookie entlarvt. Denn hey, hier wird Kunst gemacht. Und dass da ein kubanischer Starsaxofonist, der schon mit Helene Fischer und den Mitgliedern des Buena Vista Social Club aufgetreten ist, zu spät dran ist und sich dann erst noch eine Zigarre anröstet, um in Aufnahmestimmung zu kommen, ist im Gegensatz zu meinem unsensiblen Kommentar überhaupt nicht peinlich. Wenn ich es mag, hier als Einsteigerin im Musikgeschäft unvoreingenommen aufgenommen zu werden, sollte ich tunlichst auch nicht über die Charaktereigenschaften professioneller Kreativer urteilen. Ich schäme mich.
Lichtjahre bis zur Genialität
Man wünscht sich nichts sehnlicher als dass „Cam“ die Musik gefällt, an der man gerade mit Bob arbeitet. Aber wenn man sich das Video „Drinking The Rain From The Puddles“ seiner Performance mit dem Künstlerkollektiv Bunny Suit anschaut, weiß man, dass sich das Level seiner Begabung in Lichtjahren Entfernung bewegt. In einer alten Pressemeldung beschreiben Bunny Suit ihren Stil als „Blues-inspirierten Alternative Rock“, „wunderschön und verstörend“. Ja, das kann man so sagen.
Die dort gefeierte „formverändernde Vielfalt seiner Stimmtöne und Klangfarben“ zeigt sich in diesem Beispiel darin, dass Laing von einem ersterbenden Hauchen in eine Art Lautsprecherdurchsage übergeht, für die er mit den Händen ein Megafon formt, um sich zum Ende hin immer leidenschaftlicher in die Lyrics zu legen. Sie handeln von einem lyrischen Ich, das seit seiner Geburt mit permanenter Beunruhigung konfrontiert ist, das Regen aus Pfützen trinkt und „einsamen Gestalten mit Geschichten so alt wie die Sterne“ begegnet.
Auf Augenhöhe mit der Gitarre
Das ist unbestreitbar tiefgründige Kunst. Zu meinem Lied sagt er nichts, aber auf Backstage PRO sagt er: „Meine Stärken liegen bei natürlich klingenden Produktionen, also Musik, deren Soundqualität hoch ist, der man aber gleichzeitig anhört, dass sie von Menschen gemacht ist, die mit ihren Instrumenten interagieren“. Daran muss ich wohl noch arbeiten, jedenfalls an der Interaktion auf Augenhöhe mit der Gitarre, die auch nach vielen Jahren als Autodidaktin und vier Jahren Intensivunterricht oft noch mit mir macht, was sie will.
Zumindest Bob findet, dass wir mit etwas „wirklich Coolem“ aus der Session herausgegangen seien, und auch der Saxofonist meint, ihm gefalle mein Song: „Ja, ich habe mehr Erfahrung, aber jeder hat sein eigenes Licht. Niemand ist besser als der andere, nur anders.“ Das ist der Famous Gold Watch-Spirit: das beflügelnde Gefühl, Künstler sein zu dürfen, ohne sich erst irgendwie beweisen zu müssen, wenn man den Drang danach in sich verspürt.
Alfie hat Hunger und Cameron hat Pläne
Inzwischen sitzt Alfie demonstrativ auf dem Mischpult, weil er Hunger hat, und Cameron Laing muss zum Location Scouting für das Feral (wilde) Folk Festival, das er im Herbst 2024 veranstaltet. Denn aus seinem einstigen Wohnzimmer ist so viel mehr geworden als ein Aufnahmestudio – ein ganzes Gold Watch-Universum. Laing ist am Aufbau des neuen Musikcafés „Hank Chinaski“ in Berlin-Wedding beteiligt und nimmt die eindrucksvollsten Musiker*innen, die bei Famous Gold Watch vorbeischauen, unter eine Art Label-Fittiche. Ein bindender Vertrag ist es nicht.
Sein so genanntes „künstlergeführtes Label-Kollektiv“ unterstützt beim Marketing und beim Pressen von Vinylplatten und steht von Selbstzweifeln geplagten Musiker*innen nachts um zwei für aufbauende WhatsApp-Chats zur Verfügung, aber stellt es ihnen jederzeit frei zu gehen. „Mein Traum ist es, ein Team zu haben, das ich bezahlen kann, um mehr zu machen. Ich weiß nur nicht, wie ich ihn verwirklichen soll”, wird der Studiogründer auf “For Folk’s Sake” zitiert. „Vielleicht erlebt einer der Musiker den Durchbruch, aber dann würde er sich sicher entscheiden, zu einem größeren Label zu gehen.“ 2021 konnten sich die Famous Gold Watch Studios demnach noch nicht refinanzieren. 2023 war, so berichtet es mir Bob, ein gutes Jahr, die Studios waren fast jeden Tag ausgebucht, ein zweiter Tontechniker wurde eingestellt. Doch 2024 gehen die Buchungen aus unerklärlichen Gründen wieder zurück.
Das kann ja niemand wollen
Es gibt natürlich einen vielversprechenden Ansatz, um ein Unternehmen mit so irrsinnig viel Geschichtenpotenzial auf sicherere Beine zu stellen: höhere Preise für die Leistungen, einen Kredit, mehr Marketing in eigener Sache, ein richtiger Businessplan eben. Aber das würde alles kaputtmachen, für das die „berühmte goldene Uhr“ steht. Man müsste wahrscheinlich die einzigartigen Räumlichkeiten wechseln, da hier viele Vereinbarungen auf Handschlag und Wohlwollen beruhen. Businessdeals würden mehr Erfolgsdruck schaffen. Unkonventionelle Menschen müssten sich Geschäftsstrukturen beugen. Die treue Busking-Community könnte sich die Aufnahmesessions nicht mehr leisten. Und das alles kann ja nun wirklich niemand wollen.
Also läuft es einfach weiter wie bisher. Die Gold Watch-Enthusiast*innen helfen einander gegenseitig ehrenamtlich oder für kleine Gagen mit ihren Talenten aus. Zum Beispiel bei den „Open Video Days“, bei denen Musiker zum erschwinglichen Preis 2-Stunden-Slots buchen können, um ihre Werke live einzuspielen und das Musikvideo gleich mit abdrehen zu lassen. Oder bei den intimen Studiokonzerten von Gold Watch-Künsterinnen, deren Termine der engeren Community nur als Insta-Story angekündigt werden und deren Eintritt auf Spendenbasis läuft.
Gold aus merkwürdigem Rohmaterial schaffen
Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt dann auch Rainer vom Feld (mit oder ohne Strohhut), der sich mit 60 Jahren das Gitarre Spielen als Autodidakt beigebracht hat und seine Tom Waits-artigen Stücke hier aufnimmt. Unter den Nachwuchsmusiker*innen genießt er Kultstatus und sein Instagramprofil quillt wie die Profile der gesamten Community über vor Liebe: „ein magischer Ort“, „ein Geschenk des Himmels“, „Hier wird Gold aus einem merkwürdigen Stückchen Liedmaterial geschaffen“. Kaum zu glauben, dass eine*r von ihnen, sollte der Durchbruch gelingen, The Famous Gold Watch den Rücken kehren würde.
Beim Studiokonzert im Juni 2024 jedenfalls, bei dem vor allem die niederländische Sängerin Kiki Annette mit ihrem verletzlichen Indie-Folk begeistert, braucht der nach ihr auftretende Künstler eine Weile, um seine E-Gitarre umzustimmen. Da ruft jemand aus dem Publikum: „Lass dir Zeit, du bist hier unter Freunden!“ Und dann gibt es einen wilden Song auf die Ohren, in dem der Protagonist seinen Ex auf der Straße anschreit, ob er beim Orgasmus mit seinem neuen Partner denn noch manchmal an ihn denke. Wieder so ein unvergleichlich-beschützenswerter Famous Gold Watch Studios-Moment.
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