🇩🇪 Eigentlich passt die Geschichte von der talentierten Singer-Songwriterin, die tagsüber für den Lebensunterhalt kellnert und abends auf kleinen Open Mic-Bühnen ihrer wahren Leidenschaft folgt, nicht mehr in diese Zeit. Man stellt sich doch die digital affinen Nachwuchsmusiker*innen von heute eher so vor, dass sie Musik per Smartphone und DAW-App im Heimstudio produzieren, ihre Songs auf YouTube und Spotify hochladen und an den Flaschenhälsen der Musikindustrie vorbei ihr Publikum finden. Aber auch die nostalgischen Geschichten gibt es noch, siehe Iona Zajac, King Hannah und Anna B. Savage.
Wenn jemand die schottische Künstlerin Iona Zajac nach ihrem Beruf gefragt hat, hat sie bis vor Kurzem noch gesagt: „Ich arbeite in einem Café und mache Musik“. In dieser Reihenfolge. Nach ihren Touren als Vorprogramm für Alison Moyet und Background-Sängerin bei den Pogues in den Jahren 2024/25 muss sie sich das jetzt langsam mal abgewöhnen und sich trauen zu sagen, dass sie eine professionelle Musikerin ist. Ich allerdings bin froh, sie 2023 bei einem ihrer ersten Konzerte außerhalb der Heimat zum ersten Mal gesehen zu haben, als nämlich Anna B. Savage sie als Support Act in die Berghain Kantine mitbrachte. Das Gefühl, ihr faszinierendes Charisma zu erleben, bevor die ganze Welt davon erfährt, war magisch.
Und noch eine Sängerin in einer Bar
Die Gründungsgeschichte des Duos King Hannah geht ähnlich: Ein Student, der E-Gitarre spielt, hört ein Mädchen, das bei einem Uni-Konzert einen Folksong vorsingt. Ihr Stimmumfang, die Emotionalität und Ehrlichkeit in ihrer Stimme hauen ihn vom Hocker. Aber erst Jahre später, als Craig Whittle einen Job in einer Bar annimmt, wo rein zufällig Hannah Merrick diejenige ist, die ihn einarbeitet und ihm zeigt, wie man Tische eindeckt, finden die beiden musikalisch zusammen.
Was verbindet die drei Künstlerinnen, von denen ich in diesem Text ausgiebig schwärmen will, außer ihren unprätentiösen Anfängen und meiner Begeisterung für sie noch? Nun, sie kommen alle drei von den britischen Inseln – King Hannah aus Liverpool, Iona Zajac aus Glasgow und Anna B. Savage aus London (wobei Iona und Anna inzwischen in Dublin leben). Alle drei sind noch nicht wahnsinnig lange auf dem Radar der Liebhaber*innen von Alternative-Musik.
Anna B. Savage hat zwar 2015 bereits ihre erste EP (mit dem Titel „EP“) herausgebracht, doch wegen Minderwertigkeitskomplexen danach eine lange Pause eingelegt. Erst 2020 folgte die nächste Single („Dead Pursuits“) und 2021 das erste Album („A Common Turn“). Iona Zajac hat im März 2022 ihr erstes YouTube-Video „Find Her In The Grass“ hochgeladen, King Hannah begannen ihre Karriere 2022 mit einem Album („I’m not sorry, I was just being me“), nachdem sie bereits monatelang Songs geschrieben und wieder verworfen hatten, weil sie damit noch nicht zufrieden waren.
Auch Künstlereltern können Druck machen
Anna B. Savage und King Hannah sind beide beim Independent Label „City Slang“ unter Vertrag. Über Anna und Iona ist bekannt, dass sie aus Musikerfamilien bzw. musikalischen Familien stammen (kleiner Unterschied), was es, wie ich von meiner früheren Gesangslehrerin weiß, nicht unbedingt einfacher macht, seinen eigenen Stil zu finden. Auch Künstlereltern sind nicht unbedingt gechillter als „normale“ und können ganz schön Druck machen. Im Fall meiner Gesangslehrerin wollten sie intellektuellen Jazz von ihrer Tochter hören statt vermeintlich oberflächlichen Rock und Pop. Wenn ich ein Billie Eilish-Stück in den Unterricht mitbrachte, geriet sie in Verzückung darüber, dass auch Songs aus den Charts gut komponiert und herausfordernd zu singen sein können – zu Hause hatte solche Musik nicht stattgefunden.
Anna B. Savages Eltern sind beide professionelle klassische Sänger, Iona Zajac berichtet im schottischen Kunst- und Kulturmagazin „The Skinny“ von einem Vater, der Chopin auf dem Klavier spielte, einer Mutter, die Joni Mitchell-Songs anstimmte und Iona in musikalischen Sommercamps anmeldete, wo sie die traditionelle schottische Harfe („Clarsach“) zu spielen lernte. Die Familie habe immer gemeinsam Musik gemacht und sie sei mit traditionellen „murder ballads“ („Mörderballaden“) aufgewachsen. Dieses Musikgenre geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Die Sänger*innen erzählen in den Werken aus der Ich-Perspektive von den Gräueltaten fiktiver Charaktere, um den Wahnsinn der Welt zu beschreiben.
Tolle Künstlernamen, Wahnsinns-Bühnenpräsenz
Während Iona Zajac von Geburt an einen schönen Namen trägt, der sich super als Künstlername eignet (ihre Schwester heißt Ruby), ist bei Anna B. Savage nicht klar, ob das ihr echter Name ist. Beim Gig im Berliner „Frannz Club“ im April 2025 gab sie auf die Frage aus dem Publikum, ob sie wirklich so heiße, keine Antwort. Klar ist: der Name passt wie die Faust aufs Auge. Aber mein absoluter Favorit ist König Hannah. Feministisch, ohne es erst noch erklären zu müssen. Denn anstatt mit der weiblichen Endung oder Gendersternchen ihren Platz auf dem Thron zu beanspruchen, annektiert Hannah Merrick einfach kurzerhand die männliche Form. Die drückt auch in der Ära der Diversity einfach noch am meisten Macht aus.
„King Hannah“ passt auch zu ihrem androgynen Gesicht, dem das Kunststück gelingt, abgeklärte Distanziertheit und brutale Verletzlichkeit, Weiblichkeit und Männlichkeit gleichzeitig auszustrahlen. Die Kombination aus rotem Prinzessinnen-Dress mit Rüschenärmeln und schwarzer E-Gitarre beim Auftritt im Lido Berlin im Juni 2025 tut ihr Übriges. Auf Instagram fühlte ich mich an dem Abend bemüßigt zu schreiben: „Wie fckn cool kann eine Frau sein?“ Exzentrisch würde als Adjektiv auch passen – genau wie auf Anna.
Alle drei Künstlerinnen haben eine unglaubliche Bühnenpräsenz, die einen – einmal gesehen – nicht mehr loslässt. Wenn Iona die Bühne betritt und ihr erstes Lied anstimmt, herrscht im Raum sofort absolute Stille. Man wagt es nicht, den Zauber, den sie ausstrahlt, auch nur mit einem Flüstern zu brechen. Fast erstaunt erzählte sie dem unabhängigen irischen Magazin für Kunst und Kultur „The Thin Air“, dass es bei 24 von 25 Auftritten der Alison Moyet-Tour unglaublich ruhig gewesen sei: „Es ist ein Privileg, vor einem solchen Publikum spielen zu dürfen, das den Songs und ihrer Bedeutung so viel Raum gibt.“ Dabei ist das kein bisschen verwunderlich, sie ist einfach so gut.
Wie eine Wildkatze auf der Jagd
Anna B. Savage ist, wie der Name schon sagt, die Wilde. Wer sie, wie ich, beim ersten Mal zufällig gesehen hat und es danach kaum erwarten konnte, sich beim zweiten Mal ganz bewusst und von der ersten Minute an auf ihre außergewöhnliche Performance einzulassen, dessen Vorfreude richtet sich vor allem auf ihre Zügellosigkeit. Wie sie beim Singen, oft mit geschlossenen Augen, mit dem Kopf zuckt, bis ihre langen Zöpfe fliegen. Wie sie ihre Altstimme aus den tieferen Lagen praktisch mit den Händen aus dem Bauch holt und in die Luft schleudert. Und wie sie ihren ganzen Körper einsetzt, bis die Stimme nicht mehr nur aus dem Mund, sondern aus der Haut zu kommen scheint.
Diese Erwartungshaltung wird ihr jetzt beim dritten Album („You & i are Earth“), auf dem es um ihren neuen Partner geht, ein bisschen zum Fluch. Nicht nur müssen sich die Zuhörer*innen auf ruhige (und dennoch außergewöhnliche) Liebeslieder einstellen – sondern eben auch auf eine verhältnismäßig brave Anna. Als sie im „Frannz Club“ bei den früheren Hits („in|FLUX “) am Ende des Auftritts dann doch noch wie eine jagende Wildkatze auf allen Vieren über die Bühne kriecht, wirkt das plötzlich ein bisschen aufgesetzt und alle zücken ihre Smartphones. Schade, dass wir (mich eingeschlossen) das jetzt brauchen, anstatt ihr ihre neue Liebe, die sie laut eigener Aussage über die App Hinge gefunden hat, zu gönnen. Anstatt wertzuschätzen, dass sie sich musikalisch weiterentwickelt. Und sich darüber zu freuen, dass [WEITERLESEN]

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Das ganze Künstlerportrait „Drei junge Musikerinnen zum Niederknien“ über Anna B. Savage, Iona Zajac und King Hannah gibt es hier:
MaMagazine – Ausgabe No. 02/2025
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Inhalt
- Künstlerportrait: Jedes Selfie könnte das letzte sein – Seite 2
- Reisebericht aus Ghana: Wo sich die Seelen der Verstorbenen treffen – Seite 7
- Kurzgeschichte: Uwe und das Mädchen – Seite 17
- Rezension: Liebe und Anarchie – Seite 21
- Gedicht: Szene in Rot – Seite 24
- Kolumne: Wer will schon die weise, alte Morla sein? – Seite 25
- Kurzfilmprojekt: „Nicht so viel darüber nachdenken, was andere von mir halten“ – Seite 28
- Gedicht: Stilles Kind – Seite 31
- Reisebericht aus Australien: Wo das harte Leben Kunst inspiriert – Seite 32
- Kurzgeschichte: Matthias Ginnberger zittert nicht – Seite 37
- Künstlerportrait: Drei junge Musikerinnen zum Niederknien – Seite 40
- Travel report: Where a hard life inspires art – Seite 45
Beitragsbild: Katie Silvester
